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Stereotypie – Mainstream

Betrachtet man den Mainstream der Filmgeschichte, so bleibt nichts anderes übrig, als seine Perspektivlosigkeit, sein Stillstehen zu konstatieren. Die oben angesprochenen Stereotypen haben sich festgesetzt.

Was an Filmsprache sich geändert hat in den letzten 100 Jahren ist kaum der Rede wert, ebenso wenig tat sich auf dem musikalischen Sektor. Neuerungen betreffen allein den technisch-praktischen Teil – sonst gibt es so wenig Bewegung wie in der populären Literatur zwischen Courths-Mahler und Konsalik.

Während in der parallelen Geschichte des Hörspiels Ende der sechziger Jahre die Verhältnisse zwischen Wort, Geräusch und Musik neu durchdacht wurden, fand der Paradigmenwechsel in der Filmgeschichte im kunsttechnischen Sinne nicht statt. Adorno und Horkheimer beschreiben dieses Phänomen in der Dialektik der Aufklärung sehr eindringlich:

„Bei allem Fortschritt der Darstellungstechnik, der Regeln und Spezialitäten, bei allem zappelnden Betrieb bleibt das Brot, mit dem Kulturindustrie die Menschen speist, der Stein der Stereotypie" (Dialektik der Aufklärung, S. 177). Man gelangt „raketenschnell von dort, wo man ohnehin ist, dahin ..., wo es nicht anders ist" (ebenda). Und so verzaubert einen das Staunen vor der Technik, vor Dolby-Surrond und „special effects".

II. Integrale Musik Filmkunst und Musik
Das betrifft freilich nur den Mainstream. Es gibt einen Film vor Hollywood wie es ein daneben und danach gibt. Die Namen Dziga Vertov, Hans Richter, Walter Ruttmann, Luis Buñuel sollten da fallen, später mindestens Jean-Luc Godard, Alexander Kluge, Wim Wenders.

Alle sie arbeiten mit einem komplexen Verständnis des Begriffs der Montage. Durchkonstruktion der filmischen Struktur, der Erzählung durch Bilder, gesellt sich eine montierte Musik hinzu, die häufig genug integraler Bestandteil der dramturgischen Anlage ist.

Anders als beim Spielfilm, dessen Drehbuch „immer noch überladen ist vom ererbten Gut aus der Literatur und der Theaterdramatik", schreibt Peter Weiss, „geht es ... um einen Ausdruck von Emotionen, von Gedankenketten, die sich der Vernunft oft entziehen" (Peter Weiss, Avantgarde Film, S. 299 f).

Eine andere Filmsprache, eine andere Form der Erzählung, fordert geradezu eine andere Musik – sofern sie überhaupt nötig ist. Daher führt ein Weg von René Clairs Entr’acte (in Zusammenarbeit mit Duchamp, Picabia und Satie) direkt zu Alexander Kluges Montage-Filmen.

Sobald der Film in das Stadium der Reflexion tritt, das heißt mehr sein will als eine Werbung für sich selbst und die Umstände, die ihn ermöglichen, sobald kann auch die Musik ihren Platz suchen. Das eben zeigt sich schlagend an den Filmen von Godard und Kluge. Es wundert da nicht, daß Godard und Kluge häufig in das Repertoire der Musikgeschichte greifen.

Seinen Grund hat dieses Vorgehen bestimmt nicht allein in fehlenden ökonomischen Ressourcen. Aus Alt mach’ Neu: Wem die künstlerische Sprache zufällt, dem fallen alle Möglichkeiten zu. „Das bedeutet," schreiben Adorno und Eisler, „daß vergangene und überholte Materialien der Musik, wenn sie wirklich vom Film mobilisiert werden, nicht ausverkauft werden, eine Brechung erfahren, die sich ebensosehr auf den Ausdrucksgehalt wie auf ihr rein musikalisches Wesen bezieht" (S. 81).

Alexander Kluge: „Die Patriotin" – Musik als Erfahrungserkenntnis
In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf Alexanders Kluges Film „Die Patriotin" von 1979 aufschlußreich. Der gesamte Film ist eine riesige Bild-Film-Musik-Montage. Neben einer dramatischen Ebene, die zugleich nicht linear verfährt, ist Bild- und Filmmaterial aus 2000 Jahren deutscher Geschichte benutzt.

Es gibt keine eigens für diesen Film komponierte Musik. Sondern es handelt sich um Musikstücke aus dem „klassischen" Repertoire (von Bach, Beethoven, Sibelius, Skriabin bis hin zu Eisler) wie auch um Werke der „leichten Musik".

In der Anfangssequenz (Szene 3) wird ein dämmriges altes Fimmaterial mit toten oder sterbenden Soldaten in ein Bild aus dem zweiten Weltkrieg verblendet. Darunter und darüber liegt ein Ausschnitt des ersten Teils aus Hanns Eislers Triptychon „Das Vorbild".

In Szene 6 sieht man Landschaftsfahrten über Stoppelfelder, Naturbetrachtungen, Burgruinen und dazu ein gesellt sich ein karges Prelude von Alexander Skriabin. Wieder später (Szenen 10-13): Blick auf eine Großstadt in der Dämmerung, verschleierte Kopfaufnahmen, schließlich ein Flugangriff mit Bombeneinschlägen.

Als Musik hört man Sibelius’ „Der Schwan von Tuolena", die nur kurz von Flugzeuggeräuschen übertönt wird. Zwischen all diesen Musikbeispielen und Bildern gibt es nun keinen direkten semantischen Bezug. Gleichwohl könnte man ihn herstellen in einer sehr vielschichtigen Form: Unter Berücksichtigung der Werkgeschichte der symphonischen Dichtung von Sibelius beispielsweise.

In einem frühen „Entwurf" beschreibt Sibelius das Aroma der Szene so: „Tuonela, das Reich des Todes – die Hölle der finnischen Mythologie –, ist von einem breiten schwarzen Wasser und reißendem Lauf umgeben, auf dem der Schwan von Tuonela majestätisch und singend daherzieht" (zit. nach Reinisch, Der Schwan von Tuonela, S. 3).

Und dazu paßt die filmische Montage von dämmernder Landschaft, Gesicht und Krieg. Diese Programmatik muß man allerdings nicht wissen, im Gegenteil. Das montierte Material in der „Patriotin" ist derart assoziativ, daß der Eindruck des Films in der Konstellation der verschiedenen Materialien sich ausbreitet.

Es wird nichts direkt ausgesprochen, alles bleibt vage und verdichtet sich dadurch zu etwas Konkretem, das man gleichwohl nicht benennen kann. Alexander Kluge schreibt: „Genau dies ist nach meiner Vorstellung Erzählkino, nämlich Geschichten erzählen, und was ist die Geschichte eines Landes anderes, als die weiteste Erzählfläche überhaupt?

Nicht eine Geschichte, sondern viele Geschichten. Das bedeutet Montage. ... Montage ist in der Filmgeschichte ‘Die Formenwelt des Zusammenhangs’." (Kluge, Die Patriotin, S. 40 f.) Historische Musik zu verwenden mit all ihren „vagen" Implikationen, ist daher konsequent.

Bild, Film, Kommentar und Musik erregen auf ihre ganz persönliche Weise Erfahrungen. Aber sie beherbergen auch geschichtliche Erfahrungen, irrationales Bewußtsein, in sich. Mit diesen Mitteln geschichtliche Emotionen und ein unterirdisches Wissen freizusetzen, ist Thema des Filmemachers Kluge.

Dieser Film über die deutsche Geschichte benötigt den Zuseher und Zuhörer, der ja selbst an einem Punkt der Geschichte steht und aus dieser Sicht heraus den Film für sich zusammensetzt.

Während Adorno und Eisler in „Komposition für den Film" noch weitgehend in den Kategorien von „Nachahmung", „Korrespondenz" und „Kontrast" über den Wirkungszusammenhang von Bild und Musik reden, und damit in einer tradionellen Sichtweise dieses Verhältnis behandeln, geht Kluges Verfahren auf Erkenntnis.

Das wird sogleich deutlich, wenn man auf Adornos „philosophisches Verfahren" schaut wie es sich erstmals 1932 geäußert hat: „Es handelt sich nicht um ein Erklären von Begriffen auseinander, sondern um Konstellation von Ideen, und zwar der Idee von Vergänglichkeit, des Bedeutens und der Idee der Natur und der Idee der Geschichte" (Adorno, Die Idee der Naturgeschichte, S. 359).

Es gibt hier ein Zusammenwirken gerade bei der Nutzung von dokumentarischem Material, das Adorno im Anschluß an Karl Marx und Georg Lukács frühe Theorie wie eine Natur behandeln würde: Nämlich als „zweite Natur", als die Welt der Konventionen.

Durch die Art der Montagetechnik bei Kluge wird diese Natur wieder in geschichtliche Erfahrung zurückübersetzt. Das meint letztendlich das Schlagwort „Aus Alt mach’ Neu". Die Verwendung der „Ode an die Freude" aus Beethovens Neunter Sinfonie gegen Ende von Kluges Film (Abschnitt XII, Silvester. ‘Lied an die Freude’) steht auf diese Weise in einem ganz anderen Licht.

Dieses Licht wird wie im Spektrum aufgeteilt in eine persönliche, subjektive soziale Lebenserfahrung einerseits und in ihre geschichtliche Substanz, die in der Szene des lauten Durcheinanderredens einer Gruppe von Frauen den Text außerhalb des Droge Musik wieder zu Bewußtsein bringt. Die semantische Popularität der Neunten Sinfonie von Beethoven wird abgebaut, geschichtliche konventionelle Erfahrung zerschlagen und neu zusammengesetzt.

Man kann das Verfahren vielleicht Ent- und Umprogrammierung von semantischen Fixierungen nennen. Eine Methode, die den ganzen Film durchzieht, da in der „Patriotin" gleiche Musikstücke mit unterschiedlichem Bildinhalt zusammengebracht werden.

Beides fängt dann im Laufe des Filmes an, in eine Wechselbeziehung zu treten. Denn nicht nur die Emotionen von Bildern sondern auch die Emotionen von Musik durchkreuzen sich gegenseitig. Alles fängt an sich in Konstellation mit anderem zu befinden.

Das Montageverfahren wird identisch mit dem Kernproblem des Film, wie es die „Patriotin Gabi Teichert" in Abschnitt III „Auf dem Parteitag" formuliert: „Ich bin Geschichtslehrerin. Ich bin hierhergekommen, weil ich die Geschichte mit Ihnen zusammen verändern will. ...

Ich bin der Meinung, daß das Material für den Geschichtsunterricht ... nicht positiv genug ist, weil unsere deutsche Geschichte auch nicht positiv genug ist. Ich möchte jetzt ein andere Material kriegen. ... Wir müssen erst die Geschichte verändern, damit wir ein anderes Material bekommen." (Kluge: Die Patriotin, S. 75 f.).

Die „Filmmusik" in Kluges „Patriotin" ist daher als „Filmmusik" falsch verstanden. Die Musik ist „geschichtliches Erbe" und „Material", das in seiner Bedeutung ebenso verändert wird wie die Geschichte (History) selbst.

© Martin Hufner

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