3. Funktionen der Filmmusik

von Thomas Seher

In diesem Kapitel werden, ausgehend von der Stummfilmzeit, verschiedene Funktionen und Modelle vorgestellt und erläutert. Eine These, die sich in der Literatur häufig findet, geht davon aus, dass Filmmusik vom Rezipienten nicht bemerkt werden soll. Diesem Aspekt widme ich mich kritisch in Punkt 3.2.1.

3.1 Funktionen der Stummfilmmusik

Filme waren schon immer Tonfilme – auch in der so genannten Stummfilmzeit. Schon für die allerersten Filmvorführungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde eine auditive Ebene in Form von klassischer Musik und Geräuschen zur visuellen Ebene hinzugefügt.

„Zur ersten öffentlichen Filmvorführung, die die Brüder Lumiére am 28. Dezember 1895 im „Salon Indien“ des Pariser „Grand Café“ am Boulevard des Capucners Nr.14 veranstalteten, spielte nach übereinstimmenden Aussagen ein Pianist.“

Bereits zu Beginn der Stummfilmzeit um 1900 übernahm Musik zahlreiche Funktionen, die sich im Laufe der Jahrzehnte weiter entwickelt haben. So tritt z.B. die Funktion der Lärmneutralisierung während der Vorführungen heute in den Hintergrund zugunsten dramaturgischer Funktionen (z.B. Bilder kommentieren). Anfangs wurde keine speziell für den Film komponierte Musik verwendet.

Man griff vielmehr auf präexistente Musik zurück wie: Klavier- oder Orchesterstücke von Franz Liszt und Richard Strauss, welche zur Begleitung der bewegten Bilder gespielt wurden. Darüber hinaus wurde versucht, den Filmen Leben einzuhauchen, indem akustische Ereignisse während der Vorführung ergänzt wurden.

„Ein Erzähler wandte sich direkt ans Publikum oder man synchronisierte phonografische Platten mehr oder weniger erfolgreich mit dazugehörigen Bildern, so dass der wohlwollende Zuschauer sich der Illusion wiegen konnte, er höre das Krähen eines Hahns, eine Arie oder sogar Teile eines Gesprächs; und natürlich gab es von Anfang an musikalische Untermalung.

Fest steht, dass Musik schon immer zum Stummfilm gehörte, auch wenn das Gegenteil in seiner Begrifflichkeit angelegt zu sein scheint. Im Folgenden werden Funktionen der Stummfilmmusik zusammengefasst:

(1) Neutralisierung von Lärm:
• Überdeckung von Umweltgeräuschen (Autos, Gespräche, Projektor)

 

(2) Erhöhung der Wirkung der stummen Bilder:
• Die realitätsnahe Darstellung in Filmen brauchte Geräusche und Musik, da eine „geräuschlose Realität“ nicht zu unserer realen Umwelt gehört. Durch Inanspruchnahme des Gehörsinns wird ein umfassenderes Bild von der Filmrealität geliefert. Der Zuschauer wird dadurch verstärkt zum Teilnehmer des Filmgeschehens und ist nicht nur Beobachter.

 

(3) Aufnahmefähigkeit des Zuschauers anregen:
• „Ein Licht leuchtet heller, wenn gleichzeitig Summen ertönt.“

(4) Erkennen von Strukturen:
• Zerstreute bildliche Gegebenheiten verschmelzen und werden als ein geschlossener Rahmen wahrgenommen.

(5) Spannungsgeladene Stille:
• Durch das Auslassen von Musik wird der Moment der Stille zu einem wichtigen dramaturgischen Moment.

 

(6) Abgrenzung von Realität:
• Der feierlich-festliche Rahmen beim Besuch des Kinos wird durch Musik unterstützt und grenzt das Kinoerlebnis von der Realität ab.

(7) Illustration:
• Musik sollte reale Geräusche, die dem Bild zugehören, „ersetzen“ und im Rahmen ihrer Illustrationsmöglichkeiten stilisieren.

(8) Emotionalisierung:
• Gemeint ist die Veränderung einer Stimmung des Zuschauers, die mit den Handlungen des Films synchronisiert wird.

(9) Publikum kollektivieren:
• Musik sollte dem Film fehlende Räumlichkeit und Tiefe geben und dadurch ein 'Wir'- Gefühl bei den Zuschauern erreichen.

(10) Unterhaltungswert steigern:
• Langweilige oder witzige Szenen können durch Musik eine schwächende oder verstärkende Wirkung erhalten.

Im Wesentlichen ist erkennbar, dass diese Funktionen wenig mit dramaturgischen Funktionen im heutigen Sinn zu tun haben. Kracauer unterstreicht, dass Filmmusik ursprünglich eher ein Bestandteil der Filmvorführungen als ein Element des Films selber war.29 Erst durch die Entwicklung des Tonfilms gewann die Musik an dramaturgischer und wirtschaftlicher Bedeutung.

3.2 Funktionen der Tonfilmmusik

Die Tonfilmzeit beginnt mit solchen Filmen, bei denen die Tonspur auf der Filmrolle fixiert, dadurch technisch wiederholbar und unabhängig von der Live-Begleitung von Orchestern oder Pianisten ist. Die ersten Tonfilme sind in den USA: „The Jazzsinger“ (1927) und in Deutschland: „Der blaue Engel“ (1930).

3.2.1 Filmmusik soll nicht bemerkt werden

Einer der frühen Theoretiker, die sich mit Musik in Ton- sowie Stummfilmen befasst haben, ist Rudolf Arnheim in seinem Buch „Film als Kunst“. Für ihn stellt die Filmmusik eine „schlechte Angewohnheit“ dar, auf die verzichtet werden könne.

„[...] wer öfter Filme ohne Begleitmusik gesehen hat, weiß, dass man sich sehr schnell daran gewöhnte und die Musik keineswegs vermisste.“

Dennoch räumt Arnheim ein, dass Musik die Wirkung der Bilder steigern könne:

„Gewiß konnte eine geschickte Begleitung - unbemerkt! - die Wirkung des Filmbildes zuweilen steigern, wie es etwa bei Edmund Meisels Musik zu „Potemkin“ und Symphonie einer Großstadt“ der Fall war, aber die Gefahr, daß sie schadete, war viel größer.“

Vor allem vertrat er eine Meinung, die selbst im 21. Jahrhundert von Filmemachern, Musikern und Musikdozenten für wahr gehalten wird.

„Filmmusik war immer nur dann gut, wenn man sie nicht bemerkte, und gute Musik ist zu schade zum Nichtbemerktwerden!“

Wie Helga de la Motte dazu aus historisch-kritischer Perspektive ergänzt, stammt Arnheims Anschauung aus der Zeit des Übergangs vom Stummfilm zum Tonfilm.

„Die Wende vom Stumm- zum Tonfilm mochte den Theoretiker [Arnheim] herausgefordert haben an der Gestaltung des Zukünftigen mitzuwirken- auch indem er verdammte, was sich der Eingliederung in seine Vorstellung vom traditionellem Kanon der Künste nicht fügte.“

In der Filmmusikbranche gilt die Aussage, dass Filmmusik umso besser ist, wenn man sie nicht bemerke, heute noch als Dogma. Selbst in einem Filmmusikworkshop an der Filmakademie Ludwigsburg 2007 galt diese Auffassung noch als selbstverständlich.

Sofia Lissa schreibt hierzu:

„Obwohl viele Menschen immer noch gern das seichte Paradoxon wiederholen, daß die Filmmusik dann am besten ist, wenn man sie im Film überhaupt nicht hört, ist sie für immer in die Vorstellung des heutigen Filmbesuchers eingezogen.“

Hans Eisler hält die Meinung, dass man Filmmusik im Film nicht hören sollte für ein weit verbreitetes Vorurteil. Seiner Meinung nach gibt es Situationen im Film, in denen das Medium des Wortes im Vordergrund steht und aufdringliche Musik stören würde, doch diese Unauffälligkeit bedeutet für ihn nichts weiter als „Banalität“. Ferner fordert er den planmäßigen Einsatz der Musik beim Verfassen des Drehbuches zu berücksichtigen, weil der bewusste Umgang mit Musik, und die Frage, wann sie denn ins Bewusstsein zu treten habe, zu einem wertvollen Kunstmittel werden kann.

Eisler und Adorno untersuchen in ihrem Buch „Komposition für den Film“ das Verhältnis von Film und Musik auf der Suche nach technischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten und Widersprüchen. Sie kritisieren die Produktion „genormter Filme“, da sie ebenso „genormte Musik“ provoziere und damit die Entwicklung der Filmmusik gehemmt wird.

Ihrer Meinung nach sollten „Erfahrungsregeln“, die im Laufe der Geschichte der Filmmusik gemacht wurden, überdacht werden. Zu den falschen Erfahrungen zählen sie „falsche Übertragung des Leitmotivgedankens auf den Film“, der Ruf nach „Melodie und Wohlklang“, die Zurichtung der Musik auf „Illustration“ das Vorurteil „Filmmusik soll man nicht hören“.

Die Durchsetzung Eislers und Adornos Forderungen kann sicherlich nur für einen Randbereich der Filmindustrie, dem Experimentalfilm, geltend gemacht werden, also für Filme, die nicht nach Kriterien eines Spielfilms (die ja abgelehnt wurden) zusammengesetzt sind.

Zurück zu Arnheim: Ausgehend von den dargestellten Kritiken, vertrete ich die Meinung, dass Arnheim aus heutiger Sicht ein verzerrtes Bild der Filmmusik zeichnet. Obwohl er der Musik einige dramaturgische Funktionen zugesteht, kritisiert er ihren Einsatz, da sie, durch ihren Bezug zum Film, ihren Kunstanspruch verliert. Für ihn waren Wirkungen, die Musik auf den Film haben konnten, „primitiver, unmusikalischer Art“, denn der Stimmungscharakter einer Szene konnte mit schlechter Musik ebenso gut erreicht werden wie mit guter Musik. In einer Zeit, in der noch nicht absehbar war, welche Entwicklung der Film nehmen würde, ist diese Meinung nachvollziehbar.

Als besonders schwierig erscheint mir seine Aktualität. Wahrscheinlich verlangt der heutige genormte, angepasste Film tatsächlich unauffällige, 'nicht-störende' Musik, da Dialogen und Bildern eine höhere Priorität eingeräumt wird, doch umso mehr erstaunt es, dass an Film- und Musikhochschulen, also an den Orten, an denen neue künstlerische Sichtweisen gelehrt und praktisch versucht werden können, heute noch Maxime wiederholt werden, die sich auf die Stummfilmära Anfang des 20. Jahrhunderts beziehen.

3.3 Systematik nach Zofia Lissa

Die polnische Musikwissenschaftlerin Zofia Lissa stellt 1965 in ihrem Werk „Ästhetik der Filmmusik“ fest, dass Filmmusik eine zunehmend komplexer werdende Entwicklung genommen hat, die neben der einfachen Illustration ganze, selbstständige Handlungsstränge repräsentieren kann.41 Im Gegensatz zum Stummfilm, in dem die Musik nach Lissa eine aufdringliche und einschränkende Verbindung zum Film hatte, änderte sich im Tonfilm das Verhältnis der auditiven Schicht zur visuellen Schicht grundlegend:

„Erst durch die technische Revolution, bei der Bild und Ton auf das selbe Band aufgezeichnet und somit synchronisiert werden konnten, war das Problem des organischen Zusammenwirkens beider Schichten, ihrer dramaturgischen Verflechtung, ihrer zeitlichen und inhaltlichen Übereinstimmung [...] endgültig gelöst.“

Lissa spricht nicht von einem Dienen der Filmmusik, sondern von einem Zusammenwirken von Bild und Ton. Vor diesem Hintergrund stellt sie die erste dreizehn Punkte umfassende Systematik der ästhetischen Funktionen der Filmmusik auf:

(1) musikalische Illustration
(2) Musik als Unterstreichung von Bewegung
(3) musikalische Stilisierung von Geräuschen,
(4) Musik als Repräsentation des dargestellten Raumes
(5) Musik als Repräsentation der dargestellten Zeit
(6) Deformation des Klangmaterials
(7) Musik als Kommentar im Film
(8) Musik in ihrer natürlichen Rolle
(9) Musik als Ausdrucksmittel psychischer Erlebnisse
(10) Musik als Grundlage der Einfühlung
(11) Musik als Symbol
(12) Musik als Mittel zur Antizipierung des Handlungsinhaltes
(13) Musik als formal einender Faktor

(Zofia Lissa, 1965)

Lissa hat erstmalig den Versuch unternommen, übergreifende Kategorien zur Einordnung verschiedener Funktionen aufzustellen auf die sich weitere Autoren kritisch beziehen.

Thiel bemerkt hierzu, dass Lissa nur ungenügend die Filmmusik im Wechselspiel mit den übrigen künstlerischen Gestaltungsmitteln berücksichtigt.43 Des weiteren weist Bullerjahn darauf hin, dass die Auflistung von Lissa dramaturgische und strukturelle Funktionen mit stilistischen Fragen vermische. So ordnet Lissa Punkt 6 die „Deformation des Klangmaterials“ zu den Funktionen der Filmmusik und nicht, wie man vermuten könnte, zu den stilistischen Mitteln. Zudem werden von Lissa nur ästhetische Funktionen aufgelistet - auf politische und ökonomische Kriterien der Filmmusik geht sie nicht ein. Aus dieser Kritik, gehen weitere Versuche hervor eine Systematik zu entwerfen.

3.4 Modell nach Hansjörg Pauli

Eine klare Trennung einzelner Beziehungsebenen unternimmt 1981 Hansjörg Pauli, indem er vier Kategorien der Funktionen unterscheidet:

1. Metafunktionen:
• a) ökonomisch: Filmmusik soll den Erfolg der Filme steigern, um möglichst hohen Profit zu erzielen.

• b)dramaturgisch/psychologisch/politisch: Filmmusik soll erstens: Distanz überbrücken, die sich zwischen den Film und dem Publikum auftut und zweitens: dem Publikum Sensationen vermitteln, um eventuelle systemgefährdende Unlust abzuführen.

2. Vereinheitlichende Funktionen:
• Filmmusik übernimmt organisatorische Aufgaben, damit der Film überschaubar, leicht verständlich bleibt.
• - z.B. über Schnitte hinwegtragen, Fragmentierungen und Sprüngen zwischen Raum und Zeit entgegenwirken.

3. Illustrierende Funktionen:
• Filmmusik soll sich zu den Szenen in „einsichtiger Weise“ verhalten - ihnen insgesamt oder einem „ihrer Aspekte entsprechen.“
(Hansjörg Pauli, 1981)

Pauli hebt erstmalig die Bedeutung der Metafunktionen hervor, eine Ebene, die bei den Autoren zuvor ungeachtet blieb. Dabei gehen seine Betrachtungen kaum auf ästhetische Funktionen der Filmmusik ein. Psychologische und dramaturgische Funktionen werden darauf reduziert, eine Einfühlung des Zuschauers in das Filmgeschehen zu ermöglichen. Eine detaillierte Beschreibung konkreter Funktionen bleibt er dem Leser jedoch schuldig.

3.5 Dramaturgische Funktionen nach Norbert Jürgen Schneider

Diese Lücke schließt 1986 der Filmmusiker und Musikwissenschaftler Norbert Jürgen Schneider. Im „Handbuch Filmmusik“ beschreibt er zwanzig dramaturgische Funktionen der Filmmusik. Dazu zählen:

(1) Atmosphären herstellen
(2) Ausrufezeichen setzen
(3) Bewegung illustrieren
(4) Bilder integrieren
(5) Emotionen abbilden
(6) Epische Bezüge herstellen
(7) Formbildend wirken
(8) Geräusche illustrieren
(9) Gesellschaftlichen Kontext vermitteln
(10) Gruppengefühl erzeugen
(11) Historische Zeit evozieren
(12) Irreal machen
(13) Karikieren und Parodieren
(14) Kommentieren
(15) Nebensächlichkeiten hervorheben
(16) Personen dimensionieren
(17) Physiologisch konditionieren
(18) Rezeption kollektivieren
(19) Raumgefühl herstellen
(20) Zeitempfindungen relativieren

(Norbert Jürgen Schneider, 1980)

Schneiders alphabetische Auflistung ist durch konkrete Filmbeispiele einleuchtend, wenngleich sie nur eine lose Anhäufung verschiedenster Funktionen darstellt, deren Kategorien sich einander keineswegs ausschließen. Dass Filmmusik auch Funktionen erfüllen kann, die über den Film hinaus gehen, wird nur in Punkt 18 „Rezeption kollektivieren“ angesprochen. So detailliert Schneider die Facetten der dramaturgischen Funktionen beschreiben mag, umso wünschenswerter ist eine Systematisierung, die den oben aufgelisteten Funktionen zu Grunde liegt.

3.6 Modell nach Georg Maas

Der Musikpädagoge Georg Maas fasst Schneiders Liste als mehr oder weniger differenzierte Beschreibungen typischer Funktionen zusammen und stellt 1994 ein strukturalistisches Modell vor, das, ähnlich wie Pauli, die Funktionen der Filmmusik auf vier Ebenen beschreibt.

1. Tektonische Funktionen:
• Musik wird als Baustein für die äußere Gestaltung des Films verwendet (großstruktureller Bezug).
• z.B. Titelmusik, Abspannmusik, Musiknummer

2. Syntaktische Funktionen:
• Musik wird als Element der Erzählstruktur verwendet (formaler Bezug).
• z.B. dramatische Akzente, musikalische Klammern, Trennung von Real- und Traumhandlung

3. Semantische Funktionen:
• Musik wird als Element inhaltlicher Gestaltung verwendet (inhaltlicher Bezug).

a) konnotativ
- Bewegungsverdopplung
- Stimmungsuntermalung
- physiologische Stimulation

b) denotativ
- historisch-geografische, gesellschaftliche Deskription
- Leitmotive
- musikalisches Zitat

c) reflexiv
Musik wird selbst Handlungsgegenstand

4. Mediatisierende Funktionen:
• Musik dient zur Vermittlung zwischen soziokulturellen Erfahrungen des Publikums und Film. Erwartungshaltungen werden befriedigt.

(Georg Maas, 1994)

Bullerjahn bemerkt, dass Maas mit seinem Modell ein Instrument geschaffen hat, das sich zur filmmusikalischen Analyse eignet. Dennoch schließen sich, ihrer Meinung nach, die Kategorien nicht aus.

3.7 Modell nach Claudia Bullerjahn

Bullerjahn antwortet darauf mit einem eigenen Modell, das der Multifunktionalität von Filmmusik entspricht und gleichzeitig den meisten Sammelsurien von Funktionskategorien entgegenwirkt:46 Dabei unterscheidet sie:

1. Metafunktionen:
Solche Funktionen gelten weniger für den speziellen Film, sondern eher für spezielle Rezeptionsformen der Zuschauer. Sie sind kultur-, gesellschafts- und zeitgebunden.
• a) rezeptionspsychologische Metafunktionen:
• Filmmusik sollte vor allem in der Stummfilmzeit zur Neutralisierung von akustischen Störfaktoren dienen. Auch heute soll Musik den Unterhaltungscharakter des Films unterstützen und Gemeinschaftsgefühl beim Publikum erzeugen.

b) ökonomische Metafunktionen:
• Durch Verwendung von Rock - und Popmusik werden unterschiedliche Zielgruppen angesprochen, die gleichzeitig für die Vermarktung des Soundtracks auf CD sensibilisiert werden sollen.

2. dramaturgische Funktionen:
Hiermit meint Bullerjahn Aufgaben, die Filmmusik für gegenwärtige dramatische Handlungen übernimmt wie: Kollision polarer Kräfte, Spannungsbogen nachzeichnen, Verstärkung von Stimmungen, Atmosphären schaffen, Höhepunkte herausarbeiten, Aktionen mehr in die Psyche der dargestellten Personen verlagern, schauspielerische Mängel überspielen.

3. Epische Funktionen:
Filmmusik dient der Kontextualisierung des Filmgeschehens. Hierzu gehören: musikalische Kommentare, Kontrapunkt, Informationen zu historischen, geografischen und gesellschaftlichen Aspekten, Manipulation der Erzählzeit und des Erzähltempos um dem Zuschauer eine Interpretation zu erleichtern.

4. Strukturelle Funktionen:
Gemeint sind damit alle Aufgaben zum Verdecken oder Betonen von Schnitten, zur Akzentuierung von Einzeleinstellungen und Bewegungen. Darunter fallen auch: Integration von Bildern, Titel- und Abspannmusik sowie die Hervorhebung von Bewegungsabläufen durch deren Imitation und Stilisierung.

5. Persuasive Funktionen:
Hierzu zählt Bullerjahn hauptsächlich: die emotionalisierende Funktion der Filmmusik, die Minderung der Distanz zum Filmgeschehen und die affektive Aufladung der Bilder. Weitere Aufgaben in dieser Kategorie bestehen darin, die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf bestimmte Personen, Gegenstände oder Ereignisse zu lenken.

(Claudia Bullerjahn, 2001)

Ihr Modell ist ein neuer Versuch Funktionskategorien klar voneinander abzugrenzen. Doch meiner Meinung nach gelingt ihr es weniger als das Modell von Maas. Vielleicht mag es daran liegen, dass ihr Modell nicht nur auf den Spielfilm, sondern auf den Film im Allgemeinen angewendet werden soll wie: Lehrfilme, Werbespots, Dokumentarfilme, Experimentalfilme, Informationsfilme etc. Angesichts der Vielfalt der Genres und damit verbundenen unterschiedlichen Bedeutung der Filmmusik, stiftet ihr Modell allerdings mehr Verwirrung als Aufklärung:

Beispielsweise werden epische Funktionen mit strukturellen und persuasiven Funktionen vermischt. So ordnet sie die Funktionen des musikalischen Kommentars und Kontrapunkts, die den Zuschauer in seiner Wahrnehmung beeinflussen unter die epischen Funktionen und nicht, wie man vermuten könnte, unter die persuasiven. Die „Hervorhebung von Bewegungsabschnitten durch deren Imitation (...)“ kann, meiner Meinung nach, nicht zu den strukturellen Funktionen zugeordnet werden, da eine Hervorhebung eher eine Verdeutlichung ist, welche die Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge im Bild lenkt und somit persuasiv ist und nicht strukturierend.

Darüber hinaus finden sich bei den persuasiven Funktionen etliche Metafunktionen wieder. Die „Zustimmung des Kunden zum Produkt“ oder „emotionelle Einstimmung der Zuschauer auf den Film“47 sollten ihren Platz nicht in den persuasiven Funktionen, sondern in der von ihr aufgestellten Kategorie „rezeptionspsychologische Metafunktionen“ haben, da sie mit den Erwartungen der Zuschauer und den Vermarktungsstrategien der Filmindustrie mehr gemein haben. Zwar weist Bullerjahn darauf hin, dass Filmmusik ein oder mehrere Funktionen gleichzeitig erfüllen kann48, doch leider lässt sie diesen Ansatzpunkt nicht in ihr Schema einfließen. Die Tatsache, dass Filmmusik mehrere Funktionen auf verschiedenen Ebenen erfüllt, wurde meiner Meinung nach bei allen hier vorgestellten Modellen vernachlässigt.

3.8 Modell nach Wolfgang Löffler und Lars Wittershagen

Das erste Modell, das der Mehrdimensionalität der Filmmusik entspricht, ist das bis zum Jahr 2007 unveröffentlichte Modell des Schauspielmusikers Lars Wittershagen und Musikwissenschaftlers Wolfgang Löffler. In der Darstellung vergleichen sie die Funktionsebenen der Filmmusik mit den Reglern eines Mischpultes und zeigen damit, dass Filmmusik gleichzeitig mehrere Funktionen in unterschiedlicher Ausprägung erfüllen kann. In ihrem Modell charakterisieren drei Regler wesentliche Funktionen:

(Lars Wittershagen & Wolfgang Löffler, 1996)

Der erste Regler bezieht sich auf alle strukturierenden Funktionen, bei denen Musik den Film in verschiedene Abschnitte unterteilt (z.B. Intro, Musiknummern, Abspann). Der zweite Regler kommt dann zum Zug, sobald Musik im Film eine Bedeutung erhält. Dazu zählen: Leitmotive, Stimmungen, Kommentare, Kontrapunkte etc. Regler Drei wird dann verwendet, wenn durch Musik zwischen Film und Publikum vermittelt wird, indem Musik auf Erwartungshaltungen reagiert und nichtmusikalische Aspekte kommuniziert, wie: ironische Inhalte, Querverweise zu Personen, Starkult durch musikalische Einlagen etc. Dieser Regler ist vergleichbar mit den mediatisierenden Funktionen bei Georg Maas.

Wolfgang Löffler weist darauf hin, dass im Laufe eines Films die Regler ihre Pegelstände permanent ändern, sofern sich die Gewichtung der Funktionen verlagert. Doch niemals - so Löffler - sind alle Regler gleichzeitig geschlossen. Mindestens einer der drei Regler lässt ein „Signal“ durch.

Wittershagen und Löffler haben mit ihrem Modell wesentliche Kriterien der Multifunktionalität verbildlicht und werden damit der inneren Dynamik der Filmmusik gerecht. Bei näherer Betrachtung ergeben sich jedoch Probleme: Hinter dem semantischen Regler versammelt sich eine Masse an Funktionen, während der gliedernde Regler eine klare Funktion aufweist. Als besonders schwammig erweisen sich die kommunikativen Funktionen, da sie, aufgrund fehlender schriftlicher Erläuterungen, nicht eingegrenzt werden können. Ökonomische, sowie rezeptionspsychologische Metafunktionen werden in diesem Modell scheinbar ausgelassen. Hier ist Aufklärung angebracht!

3.9 Versuch eines eigenen Modells

Nachdem ich verschiedene Modelle zur Untersuchung der Funktionen der Filmmusik erläutert habe, unternehme ich den Versuch, ein erweitertes Modell zur Charakterisierung zu entwerfen. Die Neuausrichtung greift auf das Modell von Wittershagen und Löffler zurück, verwendet jedoch Begriffe, die meiner Meinung nach die Komplexität der Funktionen nicht vernachlässigen. Mir geht es weniger um die vollständige Auflistung der Funktionen, sondern um den Aspekt, dass Musik im Film mehrere Funktionen gleichzeitig erfüllt. Das geschieht auf drei verschiedenen Ebenen (Mikro-, Makro-, Metafunktion).

Wie beim vorangegangenen Modell sind die Regler der jeweiligen Ebenen, wie bei einem Mischpult, dynamisch, d.h. je nach Szene ändern sich die Pegelstände und damit ihre Wichtigkeit. So können Mikrofunktionen (z.B. mittelalterliche Musik zu Verdeutlichung der historischen Zeit) ebenso wichtig sein wie Makrofunktionen (z.B. inhaltliches Verständnis durch Unterscheidung von Mittelalter und Moderne in 'Zeitreise-Filmen') oder in einer Szene spielt die Metafunktion eine größere Rolle (z.B. zur Vermarktung einer Band durch einen Auftritt in einer Szene).

Funktionen der Filmmusik

(Thomas Seher, 2007)

1. Mikroebene:
Mit Funktionen auf der Mikroebene sind solche Absichten gemeint, die Musik zu konkreten, einzelnen Bildinhalten erfüllen soll. Musik und Bild sind die kleinste Sinneinheit und schaffen damit die sachlich-materielle Grundlage des Films. Eine Bewertung, Urteilsbildung und Emotionalisierung im Zuschauer findet auf dieser Ebene noch nicht statt! Die Mikroebene beschreibt die Beziehung von Musik zum Filmbild.

Der Zuschauer spielt hier eine untergeordnete Rolle; er soll die gezeigten Bild-Ton-Zuordnungen bewusst oder unbewusst zur Kenntnis nehmen, Strukturen, Orte, und Gegensätzliches wahrnehmen ohne sich emotional oder urteilsbildend zu beteiligen. Psychologische Wahrnehmungsgesetze sind hier von Bedeutung (z.B. Gesetz der Geschlossenheit, Integration in Raum und Zeit, Prägnanzgesetz51). Diese Ebene soll sozusagen die Voraussetzung schaffen, die vom Regisseur gewünschten Absichten zu erreichen, welche auf der nächsten Ebene eine Rolle spielen.

Filmmusik soll auf der Mikroebene...
(1) Synchronität/Asynchronität zum Bild herstellen
(2) Bilder zu einer Sinneinheit zusammenfassen und strukturieren
(3) Akzente setzen
(4) Aufmerksamkeit auf bestimmte Bildinhalte lenken
(5) Zeitempfinden relativieren
(6) Schnitte kaschieren
(7) Stimmungen, Emotionen abbilden
(8) den Bildstimmungen entgegen wirken/Kontrapunkt
(9) Klischees aufgreifen
(10) Ort der Handlung charakterisieren
(11) historische Zeit oder Tageszeit verdeutlichen
(12) Bildinhalt verdoppeln- Illustration
ängel überspielen
(14) mit Gegenständen/Personen assoziiert werden

Beispiel: Im Film „Clockwork Orange“52 verprügelt der Protagonist auf brutale Weise eine Gruppe von Männern. Dazu hört man die Musik von Ludwig van Beethoven. Hier soll die Musik die Handlung kontrapunktieren. Klischees eines geordneten, gebildeten Bürgertums werden in Form von klassischer Musik gegen die verstörenden Bilder der Prügelei gestellt. Die Gegenüberstellung zweier gegensätzlicher Inhalte durch Bild und Musik werden auf dieser Ebene vom Zuschauer zur Kenntnis genommen – ohne dass eine Meinungsbildung statt findet. Darüber hinaus wird Beethovens 9. Symphonie als 'Markenzeichen' mit dem Hauptdarsteller assoziiert.

2. Makroebene:
Funktionen auf dieser Ebene haben eine Wirkungsabsicht. Sie provozieren beim Zuschauer Reflexion und eine emotionale Reaktion. Sie können in ihrer zeitlichen Dimension über die Länge einer Szene hinaus gehen und einen vom Regisseur gewünschten Erkenntnisprozess beim Zuschauer auslösen. Diese Funktionen sind für das inhaltliche Verständnis der Geschichte und für den Aufbau einer gelungenen Dramaturgie wesentlich. Hier werden subjektive Erlebnisse der Zuschauer verlangt, die meist vom Regisseur so gelenkt werden, so dass - im Idealfall - die Mehrheit des Publikums die gleichen Erfahrungen erlebt. Die Makroebene bezeichnet demzufolge die Beziehung: Musik-Filminhalt-Zuschauer.

Filmmusik soll auf der Makroebene...
(1) Verständnis der Filmhandlung ermöglichen
(2) Distanz/Verwirrung/Zustimmung beim Zuschauer provozieren
(3) Identifikation mit Figuren ermöglichen
(4) Erkenntnisgewinn ermöglichen
(5) vom Regisseur gewünschte Sichtweisen suggerieren
(6) reale Stimmungen/Emotionen beim Zuschauer auslösen
(7) Bezüge zu anderen Szenen herstellen.

Beispiel: Durch das Erkennen der Gegensätze von Musik und Bild bei „Clockwork Orange“ soll eine psychische Reaktion beim Zuschauer in Form von Emotionen, Stimmungen und Meinungen hervorgerufen werden. Es kommt auf die Vorbildung des Zuschauers an, ob er mit Ablehnung, Schock oder Verwirrung auf die Szene reagiert. Der Zuschauer reflektiert den 'neuen' Bild-Musik-Zusammenhang und stellt gegebenenfalls ein neues Beurteilungssystem auf; er setzt sich mit der Szene auseinander, indem er bewertet und urteilt. Beethovens Musik zieht sich wie ein roter Faden durch den Film und charakterisiert den Protagonisten und unterstützt dramaturgische Absichten: Erstens: Musik bekommt eine Wirkung, auch wenn der Protagonist nicht im Bild zu sehen ist, denn Beethovens 9. Symphonie ist mit Gefahr konnotiert. Zweitens: Dadurch wird der Zuschauer zu kritischer Distanz gezwungen – eine Reaktion, die vom Regisseur gewünscht ist, da es zur Aussage des Films beiträgt.

3. Metafunktionen:
Jeder Film ist ein Sammelpunkt politischer, ästhetischer, geschichtlicher, sozialer, wirtschaftlicher Faktoren und wirkt wiederum in die Gesellschaft hinein. Deshalb ist jede Szene, jede Kameraeinstellung, jeder Musikeinsatz den Spielregeln dieser Faktoren unterworfen, die wie unsichtbare kinematografische Folien hinter dem Filmkunstwerk zu suchen sind. Metafunktionen beziehen sich auf rezeptionspsychologische sowie auf gesellschaftliche Aspekte . Sie beschreiben die Beziehung von Musik-Film-Gesellschaft.

Filmmusik soll auf der Metaebene....
(1) Hörgewohnheiten entsprechen/widersprechen
(2) musikästhetische Regeln/Konzepten folgen/verweigern
(3) Aufnahmefähigkeit des Zuschauers steigern
(4) Abgrenzung von der Realität ermöglichen/verhindern
(5) Räumlichkeit und Tiefe vermitteln
(6) musikalischen Zeitgeist integrieren/verweigern
(7) zur Vermarktung des Films und des Soundtracks beitragen
(8) zum Gesamtkunstwerk des Films beitragen
(9) künstlerischen Wert/Erfolg des Films steigern
(11) die Musikalität des Filmkomponisten repräsentieren

Beispiel: Der Regisseur Stanley Kubrick bricht in „Stockwerk Orange“ Seh- und Hörkonventionen, denn die übliche Illustration (brutale Bilder - brutale Musik) wird zugunsten einer neuen Beziehung aufgelöst (brutale Bilder - wohlklingende Musik). Der Film erhält gerade wegen seiner untypischen Musik-Bild-Zuordnung seinen Wert, da diese die Gesamtaussage des Film enorm unterstreicht. Kubrick ist dafür bekannt auf konventionelle Filmmusik zu verzichten und dafür klassische Musik an deren Stelle zu setzen. Er folgte damit seinem musikästhetischen Konzept und schuf einen Film, der neben anderen Gestaltungsebenen gerade wegen seiner ungewohnten Darstellungsmittel herausragt. Die Tatsache, dass der Ruhm von Beethovens 9. Symphonie zum Gesamtkunstwerk und damit zur Vermarktung des Films und des Soundtracks beitrug, wurde sicherlich von den Produzenten billigend in Kauf genommen.

Anmerkend ist hinzuzufügen, dass Punkt 11 (Musikalität des Komponisten repräsentieren) in der Literatur zuvor nicht behandelt wurde, was nicht wundert, wenn man bedenkt, dass Theorien zur Filmmusik häufig von Wissenschaftlern und weniger von Musikern verfasst wurden (mit Ausnahme von Norbert Jürgen Schneider). Musiker sind bemüht ihre Leistung, ihr Können, ihr Talent zu präsentieren oder - im Gegenteil - ihre Unfähigkeit zu kaschieren. Zwei wesentliche Faktoren spielen für ihn eine Rolle: Erstens: Erfüllung von künstlerischen Erwartungen des Regisseurs und des Publikums und Zweitens: Eigenwerbung durch die Musik zu betreiben, um Filmemacher und Produzenten auf sich aufmerksam zu machen, um weitere Filmprojekte zu vertonen.

Im nächsten Kapitel
Modell der Filmmusik zu „Wölfe in B.“.